Während die Besitzer bei der Kastration weiblicher Tiere meist darauf hoffen, dass der Eingriff das Wesen der Hündin nicht großartig verändern möge, wird im Gegensatz dazu die Kastration von Rüden überaus häufig mit völlig unrealistischen Erwartungen bezüglich einer Verhaltensmodifikation verknüpft. Man möchte die Operation durchführen lassen, gerne auch auf Rat von „Experten“ wie Hundetrainern und Gassibekanntschaften, weil man hofft, dass der Rüde dadurch „sanfter“, „weicher“ und leichter zu handhaben wird.

Diese Erwartungen werden sehr häufig bitter enttäuscht, ohne dass sich dann noch etwas ändern ließe.

Jedem Rüdenbesitzer sollte bewusst sein, dass durch die Kastration nur sexuell motiviertes Verhalten „gebessert“ werden kann, aber zum Beispiel territoriale Aggression oder Ressourcenverteidigung völlig unberührt bleiben. Und genau das ist der Hauptgrund, warum sich Gegner pauschaler Kastrationen für das Suprelorin-Implantat (gerne auch „Kastrations-Chip“ genannt) entscheiden. Damit kann man den Rüden sozusagen auf Probe kastrieren und auf diese Weise die Verhaltensveränderung des Hundes „testen“.

Zeit für ein bisschen trockene Theorie: Das Suprelorin-Implantat enthält den Wirkstoff Deslorelin. Es regt in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) die Ausschüttung von Gonadotropinen an, also von Hormonen, die wiederum die Keimdrüsen (Eierstöcke bei weiblichen, Hoden bei männlichen Tieren) stimulieren. Der Clou an der Sache ist der: Gibt man eine einzelne Dosis, so kommt es in Folge zu einer vermehrten Ausschüttung von Gonadotropinen aus der Hypophyse und damit zu einer verstärkten Anregung der Keimdrüsen. Sorgt man aber dafür, dass ständig eine relativ kleine Menge eines GnRH-Agonisten im Körper zirkuliert, kommt es zum gegenteiligen Effekt, nämlich einer Übersättigung der Rezeptoren und damit zu einer sogenannten Downregulation, also einem Herunterfahren der Aktivität der Keimdrüsen. Und genau das macht das Suprelorin-Implantat: Es setzt ständig eine kleine, aber über einer gewissen kritischen Grenze liegende Menge an Deslorelin frei und legt damit die Hoden des Rüden lahm. Der Testosteronspiegel sowie die Libido und die Fortpflanzungsfähigkeit werden herabgesetzt.

Die vom Hersteller genannte Wirkungsdauer beträgt für das Implantat sechs oder zwölf Monate. Diese Angaben beziehen sich ausdrücklich nicht auf Hunde unter 10 und über 40 Kilogramm Körpergewicht, bei denen die Wirksamkeit deutlich verlängert bzw. verkürzt sein kann.

Das Implantat benötigt bis zu sechs Wochen, um die volle Wirksamkeit zu erreichen. In dieser Anflutungs-Phase kann es zu einem kurzzeitigen Anstieg des Testosteronspiegels kommen. Ob dabei auch mit Auswirkungen wie zum Beispiel gesteigerter Aggressivität zu rechen ist, wurde bisher nicht systematisch untersucht.

Mit welchen Nebenwirkungen müssen wir rechnen? Von gelegentlichen lokalen Reaktionen des Unterhautbindegewebes am Implantationsort abgesehen, sehen wir uns mit den gleichen potentiellen Nebenwirkungen konfrontiert, wie sie auch durch eine Kastration ausgelöst werden können: Haarkleidveränderungen (besonders bei langhaarigen Rassen), gesteigerte Fresslust und entsprechende Gewichtszunahme, Harninkontinenz und Aktivitätsverminderung (Trägheit). Es muss auch damit gerechnet werden, dass es zu einer für andere Hunde bemerkbaren Geruchsveränderung kommt, die zu Verwirrungen in der innerartlichen Kommunikation führen kann. Andere Hunde vermögen nicht korrekt einschätzen, mit was sie es bei einem Kastraten oder einem mit Suprelorin behandelten Rüden zu tun haben, was gelegentlich Anlass zu Irritationen auf beiden Seiten bis hin zu Beißereien bieten kann. Weitere unerwünschte Nebenwirkungen im Verhaltensbereich können vermehrte Ängstlichkeit, Unsicherheit und sogar pauschal gesteigerte (statt gedämpfte) Aggression umfassen. Der Hersteller warnt in der Gebrauchsinformation ausdrücklich: „Hunde mit soziopathischen Störungen und mit Episoden intraspezifischer (Hund zu Hund) und/oder interspezifischer (Hund zu anderer Spezies) Aggression sollten daher weder chirurgisch noch mittels Implantat kastriert werden“.

Ob die im Vergleich zu einer tatsächlichen Kastration nur kurzzeitige Hemmung der Keimdrüsenfunktion irgendwelche langfristigen Negativ-Effekte wie die Begünstigung bestimmter bösartiger Tumor-Erkrankungen verursachen kann, ist bisher nicht bekannt. Der klare Vorteil des Implantats im Vergleich zur echten Kastration ist natürlich der, dass jedwede unerwünschte Nebenwirkung nur zeitlich begrenzt auftritt.

Der Hormon-Chip ermöglicht also den Besitzern die Durchführung eines Testlaufes, und dies nicht nur bezüglich der Hauptwirkung, sondern auch der Nebenwirkungen.

Das Implantat löst sich durchaus vollständig auf, allerdings erst lange nach Beendigung der Wirkungsdauer. Wiederholte Anwendungen des Produkts sind also problemlos möglich, machen aber in meinen Augen – von ganz speziellen Fallkonstellationen mal abgesehen – wenig Sinn. Innerhalb der Wirkungsdauer des Implantats sollte eigentlich klar werden, ob die dabei auftretenden positiven oder negativen Effekte eher für oder eher gegen eine endgültige Kastration sprechen. Bei einer Entscheidung für den operativen Eingriff sollte dieser idealer Weise noch vor dem Abklingen der Suprelorin-Wirkung durchgeführt werden, um dem Rüden eine hormonelle Achterbahnfahrt mit all ihren Auswirkungen zu ersparen.

Um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Chip-Implantation ist also absolut nicht die mühelose, chemische Lösung aller möglichen Verhaltensprobleme, wie sie aus Genetik, Prägung, Sozialisierung und Erziehung entstehen können. Das Implantat eröffnet uns aber die attraktive Möglichkeit, über einen mehr oder weniger präzise definierten Zeitraum die positiven und negativen Auswirkungen einer Kastration zu beurteilen, und erweitert damit ganz beträchtlich die Datenbasis, aufgrund derer dann eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann.